Verstrickungen im psychoanalytischen Textfeld
Wer bin ich – was will ich? Diese Fragen treiben mich an. Schon lange, ohne dass ich einer Antwort wesentlich nähergekommen wäre. Es sind die Schriften von Sigmund Freud und Jaques Lacan, die mir viel Stoff zum Nachdenken darüber geben, denn sie haben diese Fragen in den Mittelpunkt ihrer psychoanalytischen Arbeit gestellt. Ich lese und studiere sie neben anderen psychoanalytischen Schriften seit Jahrzehnten. Begonnen habe ich damit, als ich meine Dissertation über Peter Handke geschrieben habe. Ich habe Texte aus dem Theorie- und Praxisfeld der strukturalen Psychoanalyse als Grundlage für die Untersuchung seines Werks genommen, wobei ich das Gehen – sein lebenslanges Gehen nach dem Motto: Der Weg ist das Ziel – zum Thema gemacht habe.
Wohin gehen wir, was ist der Kompass in uns? Die Literatur ist hellhörig für diese Fragen, deshalb habe ich mich schon sehr früh dem Lesen von literarischen Werken verschrieben. Das Lesen hat mich herausgeholt aus der engen Spur der landläufigen Lebensvorschriften und ihrer vernünftigen Erklärungen dazu. Und meine Erfahrungen haben mich eindrücklich gelehrt, dass ein vernunftgeleitetes Handeln häufig das für mich Wesentliche verfehlt.
Tatsächlich ist das rationale Denken immer verquickt mit der Frage der Macht und dem Streben nach „Mehr“: Wer hat die Deutungshoheit und bestimmt, was zu tun sei? Hier bringt Freuds Entdeckung einen gewaltigen Aufruhr in den Streit der wortführenden Köpfe. Es ist seine Entdeckung des Unbewussten, die er in dem schlichten Satz zusammenfasst: Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus. Damit entzieht er den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, dem Streit um die Herrschaft und Macht den sicheren Boden einer Rückversicherung in der Vernunft. Freuds Entdeckung zeigt auf, dass sich die grundsätzliche Ausrichtung und Orientierung eines Menschenleben jenseits des engen Bewusstseins im offenen Feld des Unbewussten abspielt, an einem anderen Schauplatz, wie er sagt. Und dieser Ort, wenn er auch in einer vergessenen, verdrängten und unbewussten Etage unseres Seelenlebens liegt, bestimmt unsere Träume, Fantasien, Sehnsüchte, alle möglichen Vorlieben für dieses oder jenes – und darüber wesentlich auch unser Handeln.
Lacan arbeitet auf linguistischer Basis heraus, dass das Unbewusste strukturiert ist wie eine Sprache. Deshalb bezeichnet er Freuds „anderen Schauplatz“ als „Ort des Sprechens des Anderen“, wobei mit dem Anderen alle sprachlichen Einwirkungen gemeint sind, die den Werdegang eines Menschen maßgeblich bestimmen, ohne dass dieser Maßgebliches davon weiß. Man muss sich den Anderen als die längst verklungenen Stimmen der Eltern, der Erziehungssysteme und Religionen, der Forderungen von Tradition und Kultur vorstellen. Sie haben vorgegeben, wie wir uns zu verhalten haben, sie haben uns Regeln auferlegt und darüber einen entsprechenden Verzicht auf Genießen und Aggression abverlangt.
Dieser Verlust weist auf die Eingangsfragen zurück. Mein Spiegel sagt mir: Das bist du und so sehen dich die anderen. Aber was sagen die Spiegelbilder wirklich über mich aus? Nur wenig. Was sie nicht enthalten, ist das Unbewusste, das in mein Selbstbild immer wieder irritierend aufstößt – in Form von unverständlichen Träumen, in Form von Versprechern und Fehlhandlungen, die mir passieren, oder in Form von Einfällen und Anwandlungen, die mich packen und von denen ich selbst nicht weiß, wie mir dabei geschieht.
Überlegungen und Begriffe aus der strukturalen Psychoanalyse lenken meinen Blick auf Phänomene des Alltags und helfen mir, sie zu beschreiben. Was ist ein Haus? Warum lassen sich Menschen tätowieren? Was spielt sich beim Lesen und Deuten von Texten ab? Wie strukturiert das Begehren unseren Alltag? … Derlei Reflexionen und geduldige Entzifferungen schwieriger psychoanalytischer Texte werden hier in laufender Ergänzung vorgestellt.