Als mein Vater im Sterben lag, tauchte in mir immer wieder das „Bühnen-Bild“ auf: Ein kleiner Mensch betritt die Bühne von links, um sie am anderen Ende zu verlassen. Von links nach rechts, wie das unseren Lesegewohnheiten entspricht. Die Bühne selbst ist brettereben, eben weil die Bretter die Welt bedeuten. Über die Bühne spannt sich ein wohlig-warmer Sonnenbogen: „die Sonne betritt ihre goldene Bahn“. Im Bann dieser Bahn hat nun der Vater-Mensch seinen Auftritt. Er torkelt, hüpft, tanzt, schreitet, steht, geht und bewegt dabei theatralisch die Arme. Er ist von seiner Rolle völlig eingenommen, spielt sie unbeirrt. Nichts lenkt ihn ab, traumtänzerisch sicher spielt er seine Rolle. Nur er ist da, keine andere Person sonst: Er stellt das pure Leben dar. Im dazugehörigen Inbild erscheint der Vater (der noch nicht mein Vater ist) als blondjunger Mann in kurzen Hosen, wie er sich schnell und zielstrebig den Weg durch das Kornfeld bahnt (von Dellach nach Kötschach, das sind ca. 6 km) zu seiner Geliebten hin, meiner Mutter (die noch nicht meine Mutter ist), kräftig wie ein junger Stier, dabei die Lippen zusammengepresst und die Kaumuskeln in rhythmischem Spiel.
Die Bühne betreten, sein Leben abspielen, und der Abgang. Mein Vater hat es in seinem Leben nicht leicht gehabt: Er ist mit Kinderlähmung als Jugendlicher schon im Totenzimmer gelegen, musste im Erwachsenenalter an Darmkrebs und Gehirntumor operiert werden, letzterer zerstörte ihm den Sehnerv, sodass ein Auge erblindete und, als reichte das nicht, der Lidmuskel für das gesunde sehende Auge erschlaffte, sodass er dieses nicht mehr schützen konnte. Mein Vater war dennoch immer ein lebensbejahender Mensch, jeden Tag, der ihm geschenkt wurde, dankbar annehmend. Bis zuletzt: Und da sehe ich ihn, wie er, abgemagert im Krankenhauskittel, blassblaues Karo auf weißem Grund, sich ein letztes Mal aufbäumt in seinem Bett, zum Fenster hinaus auf seine geliebten Berge blickt und mit der Kraft eines Sterbenden ein Heimatlied singt. Das Singen war für ihn wie das Atmen, ein Zeigen, dass – und wie! – er am Leben sei.
Dass mein Vater mich liebte, bewies er mir oft, doch nie so eindringlich wie zu dem Zeitpunkt, als er schon einige Wochen tot war. Er zeigte mir eine endlose Obstbaumallee in mildem Nachmittagslicht und wies mir mit ausgestrecktem Arm den Weg: „Geh hinein in das Licht, du bist frei!“ Mein Körper wurde leicht, Ruhe füllte ihn aus und setzte ihn zart auf die Erde. Ich konnte von dem Toten fortziehen, ohne ihn zu verlassen: Mein Vater und ich waren quitt, kein Rest blieb störend zurück.
Fortan sehe ich meinen Vater im selben Krankenhauskittel, nur ist jetzt das Blassblau in ein Himmelblau verwandelt. Und Vater zeigt sich, wie im Leben auch, als ein lustiger Kerl, der mit luftigen Himmels-Gestalten scherzt.